Ein giftiger Nebel schleppte beim Sonnenaufgang das Gewitter über die Brücke von Tigris mit sich und schlich durch das christliche Viertel. Unbeeindruckt vom Donner und Blitz erwachte die Stadt und machte sich bereit für den Tag auf den Feldern unter dem blauen Himmel und Sonnenschein.

Der Bote des Bösen hielt vor dem Haus des Dorfvorstehers, spuckte auf die Tür und trat in das Haus ein. Zwei Gendarmen folgten ihm bis zum großen Zimmer. Zwei weitere hielten draußen vor der Tür Wache. Nuhro, der Dorfvorsteher und seine Frau standen sofort auf, als sie Tscherkess Harun, den Vertreter des Wali und die Gendarmen in ihrem Zimmer sahen. Unter ihren ängstlichen Augen setzte er sich auf dem Boden inmitten des Zimmers um das weiße Tuch, auf der Milch, Brot, Käse und Oliven zum Frühstücken bereit standen. Auf Nuhro’s Zeichen hin ging seine Frau schnell raus aus dem Zimmer. Nuhro schenkte ihm mit zitternden Händen Milch ein und setzte sich still neben ihn am Rande des Tuches.

Der Ruf des Tscherkessen eilte ihm voraus. „Das sind sehr schlechte Zeichen“ dachte der Dorfvorsteher und schaute die ganze Zeit auf den Boden.

Die Luft kühlte ab, ein leichter Wind fand den Weg zum Zimmer.

Draußen öffnete der Himmel seine Schleusen. Den gedämpften Aufschlag jedes einzelnen Tropfens fühlte Nuhro auf seiner Haut. Seine Augen folgten der Hand von Tscherkess Harun. Er verspeiste ein ganzes frisches Brot aus dem Ton-Ofen, welches seine Frau vor einer Stunde gebacken hatte, zwei große Scheiben Käse und über 60 braun-rote Oliven.

Tscherkess Harun spuckte den Kern einer Olive, welcher laut im Milch-Krug landete. Die zwei Gendarmen schauten mit ausdruckloser Miene erst zu ihrem Herrn und dann zum Dorfvorsteher. Der Dorfvorsteher blieb regungslos sitzen und schaute weiter auf den Boden. Der Tscherkesse lachte zufrieden,  putzte mit seinen Ärmeln seinen Schnurrbart und lehnte sich gegen ein dickes Kissen zurück.

Regungslos und mit roten Wangen schaute der Dorfvorsteher, der auch Diakon der orthodoxen Kirche war, auf das Brot, das für alle Menschen, die er kannte, für ehrliche Bemühung stand und heilig war, und nicht unter den Füßen gehörte.

Der Tscherkesse streckte seine Beine auf das weiße Tuch und legte seinen rechten Fuß auf das runde Brot.

Der Diakon ballte seine Fäuste, drehte seinen Kopf zu dem Tscherkessen. Rachegedanken stiegen in ihm auf. Seine Augen suchten die Augen des neben ihm liegenden Feindes. „Der Regen hört auf“ rief seine Frau und lenkte ihn ab. Er schloss seine Augen, drehte seinen Kopf nach vorne und versuchte an seine Kinder zu denken, als zwei kalte Hände ihn an seinen Schultern fassten und ihn hochhoben.

Gefesselt verließ der Dorfvorsteher sein Haus. Die Sonne trocknete die Straßen. Die Luft roch nach frischer Erde. Standen alle Männer des Viertels gefesselt an der Straße?

Nuhro, der Diakon der Orthodoxen-Kirche, lief verständnislos zu der Menge. In Diyarbekir wurden die Intellektuellen gefangen genommen. Die Menschen hier waren keine Intellektuelle. Wenige konnten lesen und schreiben. Aber Intellektuelle? Nein! Höchstens Diakone, Kirchenmänner. In Diyarbekir waren sie vielleicht  Patrioten. Aber hier, Patrioten? Nein, höchstens Kirchentreue, religiöse Menschen.

Am Straßenrand blickten die Mohnblumen vom Regen geknickt auf die Erde. Dämpfe stiegen langsam hoch und vermischten sich mit dem grün-roten Teppich am Straßenrand.

Ein Schrei des Wali-Vertreters stoppte die lange Reihe mit den gefesselten Männern vor einer Pfütze, die die schmale Straße bedeckte. Genervt beschimpfte er die Gendarmen um ihn. Die Gendarmen schupsten schnell 9 gefesselte Männer nach vorne. Sie schlugen auf sie ein, bis sie sich in die Pfütze legten.

Tscherkess Harun ging den schmalen, von einer Pfütze gesperrten Weg auf dem Rücken der Gefangenen und überquerte die Pfütze. Nach und nach standen die durchnässten Männer auf und liefen ihm mit gesenkten Köpfen hinterher.

Die Augen der Gendarmen hinter der Reihe folgten den Schreien einer jungen Frau, die eine ältere Frau festhielt. Neben den beiden stand ratlos ein kleiner Mann.

Ihre Mutter hielt Ferida davon ab, hinter ihrem gefesselten Vater zu laufen. Die Tränen flossen ihr übers Gesicht. Sie versuchte sich von dem starken Griff ihrer Mutter zu befreien. „Was will dieser Mann“ fragte sich Ferida kurz, als er weg von ihr in die Richtung der Gendarmen lief.

Der unrasierte, klein gewachsene Mann, der vor ein paar Sekunden noch neben ihr stand, sprach mit den Gendarmen, die alle Männer ihrer Viertel nach vorne trieben.

„Nachbar, Onkel? Wohin bringen sie Euch? Onkel, Cousins warum hat man euch gefesselt?“

Sie hörte, wie die Gendarmen nickten und laut lachten. Der kleine Mann machte mit einem zufriedenen Gesicht einen Schritt weg von den Gendarmen, als ein großer Gendarm ihm einen kräftigen Tritt verpasste. Er fiel auf dem nassen Boden, stand jedoch wieder mit Freude im Gesicht auf und lief an ihren Bruder vorbei. Das Lächeln des Mannes verstand Ferida nicht.

„Wohin gehst du Aho -Bruder?“ schrie sie hinter ihren Bruder, während ihre Augen dem kleinen Mann folgten, der vor ihrem Vater hielt.

„Vater, Vater, Vater! Bleib hier, Vater!“

Die Gendarmen vorne hielten die gefesselten Männer. Der Mann sprach aufgeregt mit ihrem Vater, der auf den Boden blickte. Ihr Vater hörte aufmerksam zu, bis der kleine Mann schwieg und mit flehenden Blicken vor ihrem nachdenklichen Vater wartete. Ihr Vater drehte sich langsam zu ihr. Seine Augen suchten sie. Ein trauriges Lächeln verbreitete sich auf seinem Gesicht. Waren Tränen in seinen Augen? Er biss seine Lippen, schaute zu dem Mann und nickte.

„Orospu – Hure!“ schrie ein Gendarm mit einem Grinsen an seinem Gesicht.

Der Mann schaute erfreut zu Ferida und lief zurück. Als er an den Gendarmen vorbeiging, bekam er noch einen Tritt, stolperte und fiel auf dem Boden mit dem Kopf in eine kleine Pfütze.

„Du Orospu! Schön ist sie auch noch!“ schrie der Gendarm hinter dem Mann, der auf dem Boden lag.

Das Lächeln verschwand nicht aus dem Gesicht des Mannes. Er stand auf, spuckte Wasser aus seinem Mund, streifte seine Hand über sein Gesicht und Haare und lief weiter. Seine Augen suchten nach Ferida’s Augen.

„Ferida! Dein Vater hat uns seinen Segen gegeben!“ schrie der Mann.

„Segen wofür?“ sagte sie leise und schaute mit fragenden Blicken erst zu dem Mann dann zu ihrer Mutter.

„Siehst du den Mann. Er heißt Selimo. Er wird dich retten“, sagte ihre Mutter mit einer traurig und zugleich erleichterten Stimme.

Ferida schaute hinter ihrem Vater, der sich von ihr immer mehr entfernte. „Retten!  Wer soll gerettet werden. Was will dieser Mann? Warum rettet er meinen Vater nicht“, fragte sie sich ständig.

„Welche Möglichkeiten hast du überhaupt meine arme Tochter? Willst du in Kürze so wie deinen Vater getötet werden. Oder willst du wie ich erst vergewaltigt und danach getötet werden? Welche Möglichkeit hast du meine schöne Tochter?“ sagte ihre Mutter mit Tränen gefüllten Augen.

„Ja! Ich habe dich daran gehindert, hinter deinem Vater zu laufen. Dein Herz blutet meine Blume, wie auch meins. Für deinen Vater können wir nichts mehr machen. Aber für dich mein Ein und Alles. Für deinen Vater ist alles zu spät, aber für dich gibt es eine Möglichkeit zum Überleben.“

Ferida kniete vor ihrer Mutter. Sie schluchzte, ihre Tränen verhinderten die Sicht auf sie.

„Meine Tochter! Du wirst ihn heiraten! Du wirst für ihn sorgen! Du wirst immer für ihn und seine Verwandten da sein! Sie werden nach dir rufen mit „gute Mutter“, „gute Tante, Nachbarin.“  Aber bei Abwesenheit werden sie dich „gawur-Ungläubige Mutter“, „gawur Tante“ „gawur Nachbarin“ nennen. Das wirst du auch ertragen. Sei eine gute Frau. Und vergiss nicht, wer du bist.“

Die Auswahl war für Ferida nicht groß: Tod oder Leben.

Den Mann nicht zu heiraten erforderte den Tod. Sie sollte unter den Lebenden bleiben. Das war der Wille ihrer Eltern. Sie heiratete den Mann, bekam den Namen ‚Fatma‘ und wurde auf dem Papier Muslimin, betete auf Syrisch zu Jesus und Maria und wurde an einem regnerischen Herbsttag auf dem muslimischen Friedhof, neben dem längst zerstörten christlichen, als Muslimin zum Grab getragen.